ATENEY - RUSSIAN INTERNATIONAL EDITION
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Pawel Tulajew
Die russischen Träume eines deutschen Philosophen
Gedanken zu Walter Schubarts Buch Europa und die Seele des Ostens
(russische Übersetzung: Åâðîïà è äóøà Âîñòîêà, Moskau 1997, 2003).

  Eines der zentralen Themen der modernen Geschichtsphilosophie ist das Problem der wechselzeitigen Beziehungen zwischen dem Osten und dem Westen. Dies erklärt das wachsende Interesse an klassischen Werken zu diesem Thema wie N. J. Danilewskis Russland und Europa, Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes und N. S. Trubetzkojs Europa und die Menschheit. Auf einer Stufe mit diesen Studien steht das erstmals 1938 in der Schweiz erschienene Buch Europa und die Seele des Ostens des deutschen Philosophen Walter Schubart (1897-194?), das vollumfänglich der Geschichtsphilosophie sowie der vergleichenden Kulturologie gewidmet ist. Seine Besonderheit besteht darin, dass „Schubarts Werk bis zum heutigen Tage das einzige ist, in dem es um die einzigartige weltweite Berufung der russischen Zivilisation geht“ (so M. W. Nasarow, der Redaktor der russischen Schubart-Übersetzung).

  Schubarts Buch erweckte gleich nach seinem Erscheinen die Aufmerksamkeit der Geheimdienste des Dritten Reichs sowie der Sowjetunion. Schon 1933 hatte der Verfasser Deutschland wegen seiner russlandfreundlichen Einstellung verlassen müssen. Der sowjetische Geheimdienst schlug Schubart anfangs eine Zusammenarbeit vor, doch nachdem er diese abgelehnt hatte, wurde er verhaftet und in den Gulag deportiert, wo er spurlos verschwand.

  Während des Krieges wurde Europa und die Seele des Ostens von W. D. Poremski auszugsweise in Russische übersetzt. Diese Fassung wurde später mit noch umfangreicheren Kürzungen in Deutschland (1947), in den USA (1990) sowie in Russland (1992/1993) veröffentlicht. Man musste sich bis zum Jahre 1997 gedulden, ehe in Moskau anlässlich des 100. Geburtstags des Verfassers eine vollständige russische Übersetzung aus der Feder von S. G. Antipenko sowie M. W. Nasarow erschien.

  Das Grundthema des Buchs bilden Betrachtungen zum „Gegensatz zwischen dem Menschen des Westens und dem Menschen des Ostens“. Die Intuition, die den Anstoss zu seinen diesbezüglichen Forschungen gab, bezeichnet Schubart als Schlüsselerlebnis seines Lebens. Er vertritt die Ansicht, dass sich der Westen in die Sackgasse der materialistischen Zivilisation verrannt hat und eine Epoche der tiefen Krise durchlebt. Allein kann sich der Westen nicht retten. Er bedarf hierzu eines neuen Impulses, einer Erneuerung aus dem Osten, aus Russland, das reich an geistigen Traditionen ist. Schubart, der sich durch umfassende wissenschaftliche Kenntnisse und ungewöhnliche Belesenheit auszeichnet, geht ausführlich auf die russische Literatur und Philosophie sowie auf die entscheidenden Momente der russischen Geschichte ein. Er untermauert seine – bald scharfsinnigen, bald widersprüchlichen und fragwürdigen – Gedankengänge oft mit Zitaten von Dostojewski, Solowjew, Mereschkowski, Rosanow und Berdjajew. Das Thema von Schubarts Buch ist jedoch nicht „Russland“, sondern „Europa aus der Sicht des Ostens“.

  Methodologisch gesehen geht Walter Schubart von der Lehre von den vier Weltepochen (Äonen) aus. Jeder Epoche entspricht ein eigener Archetyp: 1) Der harmonische Mensch, der das All als belebten, keiner Veränderung bedürftigen Kosmos auffasst; 2) der heroische Mensch, dem sich die Welt als Chaos darbietet, welches seiner ordnenden Hand bedarf; 3) Der asketische Mensch, der vor der Welt als vor einer Versuchung flieht und seine Beziehung zu ihr in Gestalt eines Mysteriums ausdrückt; 4) Der messianische Mensch, nach dem Evangelisten Johannes auch johannischer Mensch genannt, der sich dazu berufen fühlt, auf Erden eine erhabenere, göttlichere Ordnung zu schaffen, deren Urbild er in sich trägt. In unserer apokalyptischen Epoche erfolgt gemäss Schubart ein Zusammenprall zwischen verschiedenen Typen, die das Erbe des messianischen Menschen angetreten haben. Sie alle haben eigenständige Kulturen geschaffen, unter denen Schubart die „gotische“ und die „prometheische“ hervorhebt.

  Die gotische Kultur, geschaffen vom Genie der germanischen Rasse, ist grundsätzlich religiös und künstlerisch. Sie ist die Erbin des mittelalterlichen Spiritualismus sowie der besten Errungenschaften der Antike. Die prometheische Kultur beginnt mit der Reformation und der Aufklärung. Sie ist ihrem Wesen nach atheistisch und technokratisch. Der Mensch der prometheischen Kultur verliert nach und nach die Züge der vorhergehenden Epochen. Er büsst das harmonische Gleichgewicht ein, hört auf, ein Held zu sein und strebt nicht nach der Askese. Angesichts der Krise des prometheischen Menschen verkünden die Propheten der aufstrebenden Epoche die Notwendigkeit der Geburt eines qualitativ neuen, johannischen Menschen, der das Beste der vorhergehenden Epochen in sich vereint. „Er übergibt die Führung jenen, denen die Neigung zum Überweltlichen als dauerhafte nationale Eigenschaft eigen ist, und das sind die Slawen, insbesondere die Russen. Das epochemachende Ereignis, das sich jetzt anbahnt, ist der Aufstieg der Slawen zur führenden kulturellen Kraft“ (S. 22; bei sämtlichen Schubart-Zitaten handelt es sich um Rückübersetzungen aus dem Russischen; Anmerkung des Übersetzers).

  Hier spricht Schubart einen Gedanken aus, der in Übereinklang mit den Schlussfolgerungen Danilewskis und Spenglers steht, doch geht der Autor der johannischen Idee weiter. Er prophezeit nicht bloss die künftige Blüte der slawisch-russischen Kultur, sondern erklärt kategorisch, dass die prometheische Epoche sich erschöpft hat, dass sie sich ihrem Ende zuneigt und dass die auf sie folgende johannische Epoche das Äon der Slawen sein wird. „Die kommenden Jahrhunderte gehören den Slawen.“ So lautet die hauptsächliche geschichtsphilosophische Schlussfolgerung Walter Schubarts. Ihrer Verbreitung ist das Buch Europa und die Seele des Ostens denn auch gewidmet.

  Schritt für Schritt verfolgt der Philosoph die Hauptetappen der Entwicklung der Weltgeschichte, analysiert die metaphysischen und realen Gegensätze zwischen dem Westen und dem Osten, dringt in die Tiefe der russischen Seele vor, versucht den Sinn der russischen nationalen Idee zu erfassen. Er vergleicht die Russen (für Schubart ist Russland der Führer des Ostens) mit den Deutschen, den Spaniern, den Franzosen, den Engländern. Ihn beschäftigen philosphische Probleme wie Glaube und Unglaube, Furcht und Vertrauen, Liebe und Hass, Egoismus und Brüderlichkeit, Wort und Schweigen. Er will verstehen, warum die Deutschen wie die Juden bei anderen Völkern Abneigung hervorrufen, weshalb die Angelsachsen dermassen merkantil und egoistisch, die Franzosen so leichtsinnig und extrem rationalistisch, die Russen derart idealistisch, selbstlos und selbstaufopfernd sind. Ihn interessieren die Gründe des Niedergangs des westlichen Menschen. Er will wissen, wer das Beste der westlichen Kultur erben wird, was Europa und Asien erwartet, usw.

  Die Antwort auf all diese Fragen findet Schubart im Einfluss geographischer, religiöser und kultureller Faktoren. Die Auswirkungen der Geographie sowie des Klimas nennt er „den Geist der Landschaft“. “Der Geist der Landschaft bedingt den Unterschied im Raum, den Geist der Epoche den Unterschied in der Zeit.“ Hiervon ausgehend, formuliert der Gelehrte sein eigenes Gesetz von den beiden Faktoren, welche die menschliche Geschichte bestimmen: „Die beständige Macht der Erde und die veränderliche Macht der äonischen Archetypen“ (S. 18). Gehen wir nun der Frage nach, wie Schubart den Westen und wie er Russland versteht.

  Dem Westen als Ganzem ist das Zweckdenken eigen. Der westliche Mensch ist methodisch, dynamisch und ein scharfsinniger Analytiker. Er kann auf seinem Gebiet ein guter Spezialist sein, lebt jedoch nach dem egoistischen Prinzip des „Krieges aller gegen alle“. Für ihn stehen seine persönlichen Interessen an erster Stelle. Zeit ist für ihn Geld. Er tendiert zum Philistertum und zum Atheismus. Diese Züge kennzeichnen auch die westliche „Kultur der Mitte“, die Schubart der Kultur des Ostens gegenüberstellt. Der Osten, insbesondere Russland, ist eschatologisch, d. h. er strebt auf das „Ende der Geschichte“ zu. Diese Kultur nennt der deutsche Philosoph die „Kultur des Endes“.

  Den Westen untergliedert Schubart in einige Schlüsselnationen. Er analysiert der Reihe nach die Deutschen, die Angelsachsen und die Franzosen.

  Die Deutschen sind seiner Meinung nach die typischsten Vertreter der prometheischen Kultur des Westens. Sie sind diszipliniert, sehr arbeitsam, höchst methodisch, wozu der Geist des Nordens beigetragen hat. Die Deutschen lieben den Krieg; sie sind geborene Soldaten. Das militante Preussentum ist der reinste Ausdruck des deutschen Geistes. Negative Seiten des deutschen Charakters sind der Hochmut und die Brutalität gegenüber anderen. Dies bedeutet freilich nicht, dass der Deutsche stets hart wäre. Im Kreise seiner Familie ist er gutmütig und herzlich.

  Auf die Engländer hat die Insellage ihres Landes grossen Einfluss ausgeübt. Da sie vom Kontinent getrennt sind, ist ihr Denken insulär. Die Engländer sind ihrem Charakter nach pragmatisch und stützen sich bei allem und jedem auf die Praxis. Sie streben nach Erfolg, Vorteil und Profit. Seinem Geist nach ist der Engländer ein Liberaler, seiner Berufung nach ein Händler. Äusserlich ist er höflich und zuvorkommend, aber sein Ziel ist heute der Gewinn und morgen die Macht. Diese Züge haben es England ermöglicht, ein grosses Imperium sowie die Heimat der Freimaurerei zu werden, die nach der Weltherrschaft greift.

  Die Franzosen sind im Vergleich zum Engländer weniger pragmatisch. Sie sind ebenfalls gute Analytiker und Rationalisten, doch gleichzeitig leichtsinnig und geschwätzig. Der Franzose liebt die Kunst des Wortes, ist gefühlvoll und sentimental, vergöttert in allem die Raffinesse und die Schönheit. Während der Deutsche aufgrund seines militaristischen Geistes Krieg führt und der Angelsache um des Profits willen, zieht der Franzose seinem geliebten Vaterlande zuliebe in den Krieg.

  Der westlichen Kultur stellt Schubart Russland gegenüber, dem er einen grossen Teil seines Buches widmet. Der deutsche Philosoph weist auf viele reale Züge des russischen Charakters hin, doch finden sich in seinem Buch allzuviele abstrakte Gedankengebäude, holzschnittartige Schemen, an den Haaren herbeigezogene Schlussfolgerungen und Fehler (die offenkundigsten Irrtümer werden in den wissenschaftlichen Kommentaren zur russischen Ausgabe kommentiert und berichtigt.)

  Für Schubart besitzt der Russe im Gegensatz zu seinen westlichen Brüdern ungewöhnliche innere Freiheit. Dank der Tiefe seiner Religiosität sowie seinem teleologischen Denken ist der Russe frei von der Last des Materiellen; er trägt keine Fesseln und kennt keine Grenzen. Er versucht nicht, sich die Welt untertan zu machen wie der Deutsche, sucht nicht überall den Profit wie der Engländer, ist kein aufgeblasener Geck wie der Franzose, sondern spielt gleichsam mit der Welt. Dies erklärt seine Zuvorkommenheit und Lebensfreude, die sich in einer „Kaskade von Gefühlen“ offenbart. Der Russe hat ein ungewöhnlich reiches Vorstellungsvermögen. Er neigt zur Träumerei, zum künsterlichen Schaffen, zur Poesie und verfügt über ausgeprägte Begabung für Sprachen sowie für die Schauspielerkunst. Der Russe lebt sich rasch in die Seele seines Gesprächspartners ein und macht sich eine fremde Kultur zu eigen. Hierin tritt sein einzigartiger Universalismus zutage.

  Die Universalität der russischen Seele veranschaulicht Schubart durch folgende Charakterisierung der russischen Frau: „Die russische Frau vereint auf die anziehendste Weise die Vorzüge ihrer westlichen Schwestern. Mit der Engländerin teilt sie das Gefühl der weiblichen Freiheit und Selbständigkeit, ohne dass sie deswegen zur enragierten Feministin würde. Mit der Französin verbindet sie die geistige Lebhaftigkeit, die Fähigkeit, mühelos zu scherzen; sie besitzt den feinen Geschmack der Französin, ihr Gefühl für Schönheit und Eleganz, ohne dass sie deswegen zum Opfer der Kleiderhoffart würde. Sie verfügt über die Tugenden der deutschen Hausfrau, ohne das Leben deswegen auf die Kochtöpfe zu reduzieren, und besitzt wie die Italienerin ein starkes mütterliches Gefühl, ohne deshalb ins Animalische abzugleiten. Zu diesen Qualitäten kommen noch eine Anmut und eine Weichheit, wie man sie nur bei den Slawinnen findet“ (S. 184).

  Dieses hohe Lied auf die russische Frau hat Walter Schubart vielleicht deshalb geschrieben, weil seine Frau Vera Markowna Englert eine russische Emigrantin war, die uneheliche Tochter des Fürsten Dolgorukow. Sie hat Schubart zwei Kinder geschenkt, Alexander und Nora, und sie hat die Ansichten des deutschen Denkers geprägt. Mit ihrer Hilfe hat er die russische Sprache erlebt und Zugang zu den geistigen Reichtümern Russlands gefunden.

  Der Universalismus ist wohlverstanden nicht nur der russischen Frau, sondern auch dem russischen Mann eigen. Dieser Universalismus trägt gnoseologischen und geopolitischen Charakter.

  In der Gnoseologie der Quelle des Universalismus ist auch die christliche Weltanschauung zu suchen. Diese war von Anfang an übernational, überweltlich und übermateriell. Die Tatsache, dass das östliche Christentum über den Normen steht, erklärt sich mit seinem besonderen Verständnis der Zeit. Der westliche Mensch lebt gleichmässig, nach der Uhr, wie ein aufgezogener Mechanismus; er sucht Komfort und irdische Vorteile, während der Russe jederzeit den Atem der Ewigkeit, des göttlichen Wunders und des göttlichen Waltens verspürt. Er sucht bei allem die Grenze und überschreitet diese dann. Während die Orthdoxen der Apokalypse und dem Jüngsten Gericht entgegensehnen, suchen die atheistischen Revolutionäre den Märtyrertod im Namen der Gerechtigkeit. Die revolutionäre Losung „Vive la mort!“ ist die Kehrseite der christlichen Sehnsucht nach dem Weltenende.

  Vom geopolitischen Standpunkt aus gesehen ist der Russe ein geborener Imperialist; er denkt in den Kategorien grosser Räume und Kontinente; sein Geist erstreckt sich in alle historischen Epochen und ist seinem Wesen nach universal und kosmisch. Dostojewski hatte allen Grund, von der „gesamteuropäischen und weltweiten Bestimmung des russischen Menschen“ zu sprechen, und Napoleon war aufgrund seiner persönlichen Erfahrung dazu berufen, den Ausspruch zu tun: „Russland ist eine Kraft, die mit Riesenschritten und mit grösster Selbstsicherheit auf die Weltherrschaft zuschreitet.“

  Schubart, der diese charakteristischen Züge des russischen Charakters versteht, deutet das Wesen der russischen nationalen Idee recht genau. Er interpretiert diese in Übereinstimmung mit Chomjakow, der als fundamentales Prinzip der Orthodoxie die Sobornost (etwa mit „Sammlungsprinzip“ zu übersetzen) als Synthese von Freiheit und Liebe ausgemacht hat. Die Gesellschaft als Kirche, als „freie Vielfalt in der Einheit der Liebe“, als etwas Mystisches. Der Leib Christi – dies ist das russische Ideal vom Sozium, das auch der gotischen Epoche eigen war.

  Die Oktoberrevolution des Jahres 1917 versteht Schubart als Erscheinungsform des russischen Geistes in einer seiner Dimensionen. Er meint, man dürfe den Bolschewismus nicht als blosse Ausgeburt des Marxismus auffassen; in seiner spezifischen Form konnte der Bolschewismus nur auf russischem Boden auftreten, und „er kann lediglich in der ganzen widersprüchlichen Fülle seiner Erscheinungen verstanden werden, die nicht den Thesen des Marxismus entspringen, sondern einzig der Tiefe des russischen Wesens“ (S. 276). Eine dieser gesetzmässigen Erscheinungsformen ist der für die Russen äusserst typische Wunsch nach einem übernatürlichen Sprung in der Entwicklung. In der Orthodoxie ist dies das Wunder der Transsubstantiation, in der marxistischen Doktrin der dialektische Sprung vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit. Sehr treffend bemerkt Schubart: „Die Russen lieben solche plötzlichen Sprünge – ein Sprung, und du bist in einer anderen Welt“ (S. 145).

  Diese Beispiele genügen im Prinzip, um sich davon zu überzeugen, wie schematisch das Denken des deutschen Philosophen ist. Dennoch wollen wir noch einige Zitate anführen, um zu zeigen, dass Schubarts Thesen bisweilen an den Haaren herbeigezogen sind und augenscheinliche Fehler enthalten.

  Getreu seiner vereinfachenden These vom diametralen Gegensatz zwischen West und Ost behauptet der Verfasser von Europa und die Seele des Ostens den geschichtlichen Fakten zuwider, die Slawen seien keine Europäer. Er meint, wir gehörten nicht zu Europa, sondern zum „östlichen Kontinent“ (?); dementsprechend schreibt er: „Die östliche Grenze Europas verläuft an der Wolga und nicht am Ural; wie schon im Mittelalter verläuft sie heute dort, wo die deutsche Kolonisation Halt machte“ (S. 239).

  Die Russen, die ursprünglich in den breitblättrigen Wäldern der gemässigten Klimazone gewohnt und von dort aus auf dem Wasserwege von Nordwesten her die osteuropäische Ebene besiedelt hatten, ernennt er zu „Söhnen der Steppe“. Selbst wenn er [der „Sohn der Steppe“, d.h. der Russe] in einer Stadt lebt, bewahrt er mühelos die wandernde Lebensform des Nomaden“, schreibt Schubart (S. 89). Diese Äusserungen beziehen sich auf Russland, das in den skandinavischen Quellen „Gardarik“ (Land der Städte) genannt wird, das die Nomadenvölker unterworfen und Sibirien kolonisiert hat; sie beziehen sich auf das orthodoxe Zarenreich, das zu einem gewaltigen Imperium anwuchs, in dem stets eine sesshafte Lebensweise und die Landwirtschaft dominierten.

  Die absolute Monarchie, also die traditionelle Regierungsform Europas, die Russland von Byzanz (dem Zweiten Rom) entlehnt hat, nennt Schubart eine „tatarische Idee“. Er schreibt wörtlich: „Die absolute Monarchie ist ein tatarischer Fremdkörper im Fleisch des russischen Volkes“ (S. 63).

  Entgegen den elementarsten Erkenntnissen der Militärgeschichte stellt Schubart die Behauptung auf, die Russen müssten „selten Krieg führen, und aus diesem Grund gewinnen sie diese auch nur selten“ (S. 114). Hat Schubart je von Oleg dem Weisen oder vom Fürsten Igor gelesen, die mit ihren Truppen nach Zargrad zogen, oder von Swjatoslaw, der die Wolgabulgaren sowie das Chasarenkaganat vernichtend aufs Haupt schlug, oder von Wladimir Monamach, der über 80 Feldzüge bestritt, oder von Dmitri Donskoi, der das russische Volk vom tatarisch-mongolischen Joch befreite, oder von Suworow, der mit seinen unerschrockenen Soldaten über die Alpen zog, oder von Kutosow, der das Heer Napoleons besiegte? Offenbar hat er nie etwas von diesen Männern gelesen und nicht einmal etwas von ihnen gehört, sonst hätte er solch törichte Behauptungen sicherlich unterlassen.

  Höchst eigenwillig ist Schubarts Vorstellung von der „russischen Zeit“. Die klarste Ausdrucksform des russischen Zeitgefühls im Sinne der Kürze und Unbeständigkeit des Lebens sind seiner Ansicht nach „die Potemkinschen Dörfer“ (S. 114). Weder „die grosse Herrscherstadt Nowgorod“ noch „Kiew, die Mutter der russischen Städte“ noch „das goldköpfige Moskau“ noch „das geckenhafte Petersburg“, sondern Häuschen aus Furnierholz, improvisierte Soldatenbaracken aus dem Mythos von der den Russen angeblich eigenen Begabung für den Bluff. Offenbar kennt Schubart nicht nur die russische Geschichte, sondern auch das russische Volk schlecht, behauptet er doch: „Die Russen meinen, man müsse die Vergangenheit vergessen, selbst die Gebote des Lebens fallen dem Vergessen anheim.“ Diese für die Russen vermeintlich typische vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber der Vergangenheit bezeichnet der deutsche Philosoph als „lebensbejahenden Einspruch gegen das historische Denken“ (S. 119).

  Gestützt auf sein spekulatives Schema vom schroffen Gegensatz zwischen Russland und dem Westen, versteigt sich Schubart gar zu der Behauptung, der Russe lebe ohne Normen und strenge Regeln, tendiere zur Anarchie, sei ein Luftikus und der Regierungsmacht gegenüber gleichgültig. Offenbar ist Schubart der Ansicht, Bestandteil der russischen Seele sei eine unausrottbare Zerstörungslust: „Für den Russen ist das Zerstören Selbstzweck. Er zerstört auch sein eigenes Eigentum, wenn es nötig ist, und manchmal sogar, wenn es nicht nötig ist; auch dies bereitet ihm Vergnügen“ (S. 79).

  Die russische Kultur strebt laut Schubart in letzter Konsequenz danach, sich als krönenden Schlussakt selbst zum Opfer zu bringen. Der Russe ist ein ewiger Märtyrer und Leidender. Ihn plagt ein beständiges, nicht zu unterdrückendes Schuldgefühl, das ihn zu einem „Meister der Leiden macht, die er sogar geniesst“. Die christliche Lehre von der aufopfernden Liebe und vom Ende der Welt nimmt gemäss Schubart im nationalen Geist der Russen die Gestalt der Selbstaufopferung, der Selbstvernichtung an.

  Hieraus zieht der deutsche Philosoph den Schluss, dass der Russe „fähig ist, bis zum Ende zu gehen, wobei er sich am Gedanken seines eigenen Untergangs berauscht“ (S. 71). Des weiteren schreibt er: „Der Russe empfindet Freude am Untergang, nicht zuletzt an seinem eigenen, er erinnert ihn an den Untergang alles Bestehenden“ (S. 80). Doch nicht genug damit: „Ihn [den Russen] bedrückt die Schuld, dass er noch in der irdischen Welt lebt“ (S. 82).

  Dieser phantastische, ungeheuerliche Masochismus, den uns Schubart kränkenderweise andichtet, ist für ihn fast schon der Hauptzug des russischen Charakters, den er mit der „russischen Oster-Idee“ in Verbindung bringt (S. 83). Das orthodoxe Osterfest und der Ostersonntag sind laut Schubart keine freudigen Feiertage zum Gedenken an das sich ewig erneuernde Leben, kein Triumph der göttlichen Welt und der himmlischen Kräfte über das nichtige irdische Treiben, sondern eine trübe Sehnsucht nach dem Tod; sie sind Nihilismus und falsch verstandener Existentialismus.

  All dies deutet darauf hin, dass Schubart sein Wissen von Russland nicht aus den Originalquellen und nicht aus der russischen Geschichte bezogen hat, sondern aus der künstlerischen und philosophischen Literatur, als Lehrbüchern wie Jakobenkos Abriss der russischen Philosophie (Berlin 1922). Nur dadurch lässt sich erklären, dass die Überlegungen des deutschen Forschers streckenweise so abstrakt, so subjektiv und so oberflächlich sind.

  Trotz seiner unzureichenden Kenntnisse ist es Schubart dank seiner Intuition und seiner aufrichtigen Liebe zu Russland gelungen, Wesentliches, Wichtiges zu erkennen, das wir an uns nicht bemerken, das Aussenstehenden jedoch auffällt.

  Zu den interessantesten Beobachtungen Schubarts gehört die Entdeckung wahrhaftig erstaunlicher Gemeinsamkeiten zwischen dem Schicksal und dem Nationalcharakter der Russen und der Spanier. Beide Nationen haben sich während desselben Zeitraums als Ergebnis eines Kampfes gegen Nichtchristen gefestigt. Anno 1476 verweigerte Iwan III. dem Tatarenkhan die Zahlung der Abgaben; 1492 eroberte Ferdinand den letzten maurischen Stützpunkt in Granada und vertrieb neben den Mauren auch die Juden, womit er die Reconquista vollendete. Beide Völker begründeten mächtige Imperien, beide Länder widersetzten sich dem Ansturm Napoleons und besiegten seine multinationale Armee. Verhängnisvoll für beide Völker war nach Schubarts Meinung der Angriff der prometheischen Zivilisation. Im 20. Jahrhundert erschütterten Revolutionen und Bürgerkriege sowohl Russland als auch Spanien.

  Historische Parallelen, gemeinsame kulturelle, rassische und religiöse Wurzeln sind der Grund für die Herauskristallisierung einer Seele, die dem Typ nach der gotischen nahe steht – einer frommen, zur Mystik neigenden, künstlerischen, begabten, sich allen Normen entziehenden, anarchischen und freiheitsliebenden Seele.

  „Die spanische Nationalidee“, schreibt Schubart, „ist der russischen wie keine andere verwandt. Die Ähnlichkeiten entspringen nämlich nicht bloss der Peripherie des Lebens, sondern dem eigentlichen seelischen Zentrum. Für das spanische wie für das russische Herz liegt die grösste Weisheit in den Worten: Todo nada, Dios solo [Etwa: „Alles ist eitel, Gott steht über allem“]“.

  Cervantes’ Don Quixote und Fürst Myschkin aus Dostojewskis Roman Der Idiot sind zwei verwandte Typen, zwei literarische Helden, die dem Urbild des „Narren in Christo“ nachgebildet sind. Diesem Typ stehen auch die in der Regel ungeheuer radikalen Revolutionäre beider Länder nahe. Die Losung der spanischen Anarchisten, „Viva la muerte“ (Es lebe der Tod!) sowie Herzens revolutionärer Aufruf „Vive la mort!“ sind ein und derselbe Schrei der christlich-sozialistischen Apokalypse.

  Für Schubart besteht die historische Mission der Russen und der Spanier darin, „der Welt die verlorene Seele wiederzugeben. Wenn sie ihre Sünde sühnen, werden sie sich in einem neuen Äon zu neuer Grösse erheben und den Glauben an den Vorrang des Geistes gegenüber der Kraft, der Seele gegenüber dem Materiellen wieder auferstehen lassen“ [S. 269].

  Die Russen, so Schubart, sind überhaupt dazu berufen, die Welt zu erneuern, sie vom Schmutz zu befreien und das Muster einer qualitativ neuen, von der prometheischen grundverschiedenen Zivilisation zu schaffen. Der Verfasser von Europa und die Seele des Ostens weissagt eine künftige russische philosophische Synthese, die „eine neue, vertiefte, allumfassende Bestätigung des Systems der Freiheit sein wird“ (S. 77).

  „Das Russentum“, fährt Schubart fort, „kämpft für die Überwindung der prometheischen Kultur auf dem russischen Boden, doch wird die Zeit anbrechen, wo es die Grenzen seines Landes überschreiten und den westlichen Geist in seiner eigenen Heimat angreifen wird. Von diesem Gang der Ereignisse hängt das Geschick der Menschheit ab. Europa war für Russland ein Unglück; möge Russland also ein Glück für Europa sein!“ (S. 284).

  Der Vorstoss Russlands nach Westen wird nach Auffassung des deutschen Denkers dazu führen, dass „der Europäer sich dem russisch-östlichen Menschen immer mehr annähern wird“. Der Vormarsch Asiens ist unvermeidlich, denn Russland wird kraft geopolitischer Faktoren den historischen Streit zwischen West und Ost zugunsten Asiens entscheiden. Der neue Menschentyp, der Allmensch, Träger der Ideale einer geistigen Epoche, eines neuen Solidarismus, wird kein Russe im alten Sinne des Wortes sein. „Russland – nicht das heutige, sondern das kommende – ist jener erquickende Wein, der es vermag, die kraftlos gewordene Existenz der heutigen Menschheit mit neuem Leben zu erfüllen“ (S. 307). „Die Russen gilt für das weltliche Leben wiederzugewinnen, sie so mit der Welt zu versöhnen, dass sie nicht länger deren Ende wünschen. Und die Europäer gilt es ein Stück von der Welt abrücken zu lassen, damit sie sie sich nicht zur Gänze in den Einzelheiten des Vorgehenden verlieren“ (S. 306). In diesem Sinne ist Dostojewskis Forderung zu verstehen, dass “jeder Erdenbewohner vor allem Russe werde“ (S. 307).

  Gegen diesen Messianismus erhob sich der berühmte russische Philosoph I. A. Iljin, der unter dem Titel Von der nationalen Berufung Russlands eine ausführliche Antwort auf Schubart verfasst hat. (Diese erschien erstmals  in den vierziger Jahren in der Emigration und wurde als Anhang zur von mir zitierten Schubart-Ausgabe veröffentlicht.) Iljin stellte sich auf den Standpunkt, Russland müsse nicht für andere Völker, sondern für sich selbst leben: „Wir sind berufen, zu sein, und nicht zu gelten, zu existieren, und nicht zu schulmeistern. […] Wir müssen ins Innere gehen, in uns selbst, und nach oben, zu Gott, und nicht auf dies Seite zu anderen Völkern, um diese zu retten.“ Während wir Russen den Propheten spielen, anderen Völkern Lehren erteilen, den Westen kritisieren, schreiten andere Länder uns voran, entwickeln und vertiefen ihre eigenen Traditionen, erwerben neue Kenntnisse, erzielen Fortschritte auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet. Wir gefallen uns in der Rolle des Lehrers, aber in Wirklichkeit waren wir in der Geschichte schon mehr als einmal Schüler. „Der Westen“, schreibt Iljin, „hat uns aufgrund unserer Rückständigkeit geschlagen, und wir fanden, unsere Rückständigkeit sei etwas Gesetzmässiges, etwas Orthdoxes und Geheiligtes“ (S. 399).

  In einem zweiten Anhang, einem philosophischen Essay von M. W. Nasarow mit dem Titel Der Sinn der Geschichte, wird eine theologische Interpretation des von Walter Schubart behandelten Themenkreises dargeboten. Alles in allem teilt Nasarow das messianische Pathos des deutschen Philosophen und grenzt sich in etlichen Punkte von Iljin ab. Wie Schubart fühlt er sich dem Ideal des Gottesreiches verbunden, das derselben evangelischen Quelle entspringt. Seiner Überzeugung nach ist das Gottesreich das Ziel der Geschichte. Nasarow, wie eingangs erwähnt einer der beiden Übersetzer von Schubarts Buch ins Russische sowie sein Herausgeber, verficht die Ansicht, unter den Bedingungen der totalen Krise der westlichen Zivilisation, die in der Sprache der Orthodoxie als Apostasie (Abfall von Gott) bezeichnet wird, sei gerade Russland mit seinen reichen geistigen Traditionen, seiner Herzlichkeit und seinem Mitgefühl für alle Leidenden der Welt fähig, dem Antichrist und den geheimen Kräften, die hinter der „Neuen Weltordnung“ stehen, Einhalt zu gebieten. Es ist gut, wenn die Russen in diesem Kampf Verbündete in Gestalt von Deutschen finden, die – wie Schubart – Russland lieben.

  Die philosophisch-literarischen Forschungen Walter Schubarts sind trotz all ihrer Widersprüche, Ungenauigkeiten und offensichtlichen Fehler alles in allem von grossem Interesse für den russischen Leser. Besonders wertvoll sind sie für jene, die sich mit der russischen Welt und der vergleichenden Kulturologie beschäftigen. Als ich Schubart las, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich dabei die Grundetappen meiner eigenen Suche (revolutionärer Romantismus, Nietzscheanismus, Prometheismus, Begeisterung für die russische Literatur und die klassische deutsche Philosophie, Verteidigung der Ideale der Sobornost sowie spezifisch die Erforschung des Verhältnisses zwischen Russland und Spanien) ein zweites Mal durchlief. Hier verbirgt sich ein Rätsel eines russischen Schicksals, ein Geheimnis.

  Dass wir das Buch Schubarts hoch einschätzen, bedeutet keinesfalls, dass wir mit allem einverstanden sind, was darin steht. Europa und die Seele des Ostens enthält Dinge, mit denen man sich unbedingt kritisch auseinandersetzen und deren mangelnde Fundiertheit man hervorheben muss.

  Schubart spricht über die russische Seele, aber auch über den Nationalcharakter anderer Nationen, wie von abstrakten Begriffen. In Wirklichkeit gibt es jedoch keinen abstrakten Russen, genau so wenig wie einen abstrakten Deutschen, Franzosen oder Spanier. Es gibt konkrete Menschen, welche in einer konkreten Epoche oder leben und konkrete Ideen oder Standpunkte vertreten, die sich übrigens mit der Zeit ändern. Der orthodoxe Mönch Sergej Radoschenksi, der Gelehrte und Schriftsteller Michailo Lomonosow, der Anarchist Michael Bakunin und der Kosmonaut Juri Gagarin waren allesamt Russen, aber ihrem Wesen nach nichtsdestoweniger grundverschieden.

  Im Rahmen einer geschlossenen religiösen Tradition oder Ideologie, beispielsweise der Orthodoxie oder des Bolschewismus, mag eine verhältnismässig grosse Einheit herrschen, doch selbst dort gibt es erhebliche Meinungsunterschiede, gibt es divergierende Standpunkte und unterschiedliche Strömungen. Dasselbe lässt sich von einem für Walter Schubart zentralen Begriff wie „Osten“ sagen. Gewiss, von Deutschland aus gesehen ist Russland „der Osten“, aber von chinesischer oder zentralasiatischer Warte aus ist es „der Westen“. Ihren rassischen und religiösen Wurzeln nach sind die Russen Europäer. Unser Reich erstreckte sich von Nordwesten nach Südosten, doch sind wir deshalb nicht zu Asiaten, Moslems oder „östlichen Menschen“ geworden, und wir haben deshalb nicht aufgehört, christliche, weisse Kolonisatoren zu sein.

  Schubart sieht Russland nicht als umfassende, vielschichtige Welt mit einer unendlichen Vielfalt ineinander übergehender Grenzen, sondern als Fläche. Er nennt unser Vaterland den „östlichen Kontinent“ und uns „Söhne der Steppe“. Sein geographischer Determinismus ist eine der augenscheinlichsten Schwächen seiner Thesen. Für ihn bestimmt die Landschaft das Schicksal dieser oder jener Nation fast vollumfänglich. In Wahrheit ist dies keineswegs der Fall. Gutes Blut (Art, Genetik), gute Technik und ein gutes Regierungssystem vermögen eine ungünstige geographische Ausgangslage zu korrigieren, nicht aber umgekehrt.

  Zum Schluss noch eine notwendige Bemerkung. In Walter Schubarts Buch, dessen hauptsächliches Thema die Kritik am Westen ist, findet sich nicht einmal der Ansatz zu einer fundierten Auseinandersetzung mit den USA, der Führungsmacht der modernen westlichen Welt; nur ganz beiläufig kommt der Autor auf Amerika zu sprechen. Zwar schrieb er sein Werk in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die offenkundige amerikanische Expansionspolitik mit der Monroe-Doktrin begründet wurde und sich hauptsächliche auf die westliche Hemisphäre erstreckte, aber schon ab 1914 war die amerikanische Präsenz auch auf dem alten Kontinent stark fühlbar. Die Amerikaner beteiligten sich faktisch an der nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten Aufteilung der Einflusssphären in Europa. Dass dies Schubart entgehen konnte, ist schlechthin unbegreiflich.

  Seither hat sich das globale Kräfteverhältnis noch zweimal geändert, von 1941 bis 1945 sowie nach 1991. Das Dritte Reich und die Sowjetunion existieren nicht mehr. Wir leben in der Epoche der technokratischen, postindustriellen Revolution, der Offensive der „Neuen Weltordnung“ und der „Kriege der neuen Generation“. Unter diesen qualitativ veränderten Bedingungen wirkt vieles an den Prophezeiungen Schubarts und seiner Zeitgenossen verfehlt oder zumindest stark übertrieben.

  Fassen wir zusammen: Bei der Lektüre jedes beliebigen Buches, Europa und die Seele des Osten nicht ausgenommen, sollte man versuchen, den Standpunkt des Verfassers zu begreifen; man sollte das betreffende Werk nicht als Sammelsurium von Offenbarungen und Prophezeiungen betrachten. Mit Ratschlägen an andere sollte man möglichst sparsam umgehen, und man sollte keiner Hypnose erliegen, weder seitens seiner Freunde noch seitens seiner Feinde.

  Wir werden in erster Linie auf uns selbst hoffen, werden unserem Verstand, unserem Herzen und unserer Seele Gehör schenken. Wir werden unser eigenes Schicksal selbst frei und verständig schmieden.

  © Ubersetzung ins Deutsche, 2010

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